Betzavta-Demokratieseminar in Lemgo im Juni 2018 - Ein Erfahrungsbericht von Florian Kammeier

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Ich hatte das Glück, in den letzten Wochen an dem Betzavta-Seminar von Petra Riedel teilzunehmen. Leider hatte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht die Möglichkeit, am letzten Seminartag dabei zu sein. Dennoch möchte ich meine Erfahrungen gerne schildern.

Wie Petras Co-Referentinnen zurecht bemerkten, ist ein Parteibüro für solche Zwecke ein sehr "konkretes" Umfeld. Viele der Teilnehmer*innen setzen sich bereits seit Jahren mit Politik und politischer Philosophie auseinander. Dieser Umstand führte zwar dazu, dass viele Diskussionen von einer linken Programmatik bestimmt waren, aber das hat dem Demokratieseminar jedoch überhaupt nichts an Reiz genommen. Im Gegenteil:

Fragen, in denen man sich immer sicher fühlte, sind aus neuen Perspektiven aufgerollt worden.

Im Folgenden möchte ich dafür ein paar Beispiele nennen.

Was mich persönlich sehr begeistert hat, war die Art, wie jeder Seminartag aufgebaut war und wie man es schaffen kann, trotz oder gerade durch sehr offene Fragestellungen einen klaren roten Faden durch alle Veranstaltungen zu führen.

Thema des ersten Tages war das Entwickeln einer demokratischen Entscheidung. Für viele Politikbegeisterte ist natürlich der Mehrheitsentscheid das erste legitime Mittel zum Treffen einer Entscheidung. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass "demokratisch" bedeutet, dass jede Stimme, auch die der Minderheit, Gehör bekommen soll, darf der Mehrheitsentscheid nur das letzte Mittel sein. Ob ein Mehrheitsentscheid überhaupt angebracht ist, das war dann Thema der folgenden Seminartage. Wir haben ein Spiel gespielt, bei dem jede Person eine Karte bekam, die ihre Stimme darstellte. Die Person, bei der am Ende die meisten Karten waren, durfte eine Regel für die Gruppe aufstellen.

Um es kurz zu machen:

Viele Teilnehmer*innen waren erschrocken, wie leichtfertig man seine Stimme, oder besser, die eigene Verantwortung, abgibt, ohne garantieren zu können, dass einen auch das erwartet, was zum Beispiel der Kandidat ihnen versprochen hat.

Im Folgenden übertrugen wir dieses Szenario auf Alltagssituationen bis hin zu parlamentarisch-demokratischen Wahlen.

Thema des zweiten Seminartages waren Minderheiten. Auch hier sind wir wieder sehr behutsam und alltagspraktisch an das Thema herangeführt worden. Das ist es ja, was mich gerade so begeisterte. Abstrakte Fragestellungen hat es eigentlich nicht gegeben. Wenn der Bedarf allerdings da war, wurde genügend Raum gelassen, um am Ende des Seminars solche Fragen aufzuwerfen und gemeinsam unter Anleitung zu diskutieren.

Die Fragestellung des heutigen Spiels war es:

Schaffen wir es, unseren Bedürfnissen nachzukommen, wenn wir voneinander abhängig sind?

Hierzu mussten sich je drei Personen am Handgelenk mit einem Faden verbinden und wurden in die Pause entlassen. Im Vorfeld, ohne zu wissen wohin es führt, haben wir unsere Vorstellungen von einer guten Pause auf einen Zettel aufgeschrieben. Nun kam es darauf an, die eigenen Wünsche umzusetzen. Auch hier kommt es darauf an, über den Tellerrand hinauszublicken und sich nicht von den Umständen gefangen zu machen.

Ein Teilnehmer äußerte den Wunsch, den Faden zu lösen. In einer Abstimmung schlug sich die Mehrheit auf seiner Seite. Die Meinungen gingen auseinander.

Wie wir in der Reflexion feststellen mussten, gab es Teilnehmer*innen, die gerne verbunden geblieben wären, um diese Erfahrung zu machen. Dem muss ich mich anschließen. Sicher wäre es spannend gewesen zu erfahren, ob jede*r unter dieser Voraussetzung seinen Bedürfnissen nachgekommen wäre. Dazu hatten wir nicht mehr die Möglichkeit. Aber wir hatten die Erkenntnis. Die Erkenntnis, dass sich gar nicht alle hätten dieser Mehrheitsentscheidung fügen müssen, nur um sie zu einer demokratischen Entscheidung zu machen.

Es wäre genauso gut möglich gewesen, dass sich alle Gegner*innen des Beschlusses verbunden hätten und unter Einvernehmen das Spiel fortgesetzt hätten. Aber auch diese Erkenntnis erfordert eine besonders tiefe Einsicht in die Situation. Diese Sensibilität sollte und wurde uns an diesem Tag vermittelt.

Der dritte Seminartag drehte sich um das Thema Chancengleichheit. Erneut, ohne uns dies sofort mitzuteilen. Hierzu haben wir ein Würfelspiel gespielt. Die Regeln sind simpel. Drei Teams, jedes Team startet auf unterschiedlichen Positionen. Es gibt 25 Felder. Wer über ein Ereignisfeld kommt, darf eine neue Regel erfinden. Ach ja, wichtiger Zusatz! Bei jedem Team befindet sich ein Spieler auf dem Feld, und einer auf der Bank. Zudem hat jedes Team einen Schlachtruf. Damit hätte man arbeiten können, wurde jedoch nicht angewandt.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, wer vorne ist, stellt Regeln zu seinem Vorteil auf. Wer hinten ist, ebenfalls zu seinem. Für mich war die besondere Erkenntnis:

Wer die Spielregeln zum Nachteil des Vorderen aufstellt, macht das Spiel in keinster Weise gerechter. Es ist eine Illusion zu glauben, man können eine Würfelspiel schaffen, dass auf Chancengleichheit beruht. Letzten Endes entscheidet der Würfel. Und das ist schlichtweg nicht gerecht.

Im Leben starten wir an unterschiedlichen Punkten. Geschlecht, Herkunft, Sexualität, Einkommen und vieles weiteres spielen dabei eine Rolle. Nicht zuletzt auch Würfel. Schicksalsschläge, Krise und Krankheit beeinflussen unser Spiel. Einmal diese Erkenntnis gewonnen, ergab sich eine hochpolitische gesellschaftliche Debatte, bei der die Frage "Wie erschaffen wir ein gerechtes Spiel?" im Mittelpunkt stand. Von sehr abstrakten, bis hin zu sehr konkreten Fragen.

Ist gleiches Einkommen für alle Gerecht? Oder besser, gibt es sowas wie "Einkommen" in einem gerechten Spiel?

Durch gezielte Fragen der Moderation sind ständig Rückbezüge zu dem Spiel hergestellt worden. Die Diskussion fand natürlich kein eindeutiges Ergebnis, ergab sich aber als Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten. Wie jedes Mal folgte eine Reflexion.

Leider war das der letzte Tag an dem ich teilnahm. Ich habe für mich viel mitnehmen können. Nicht nur im Zusammenhang mit meiner politischen Arbeit, sondern in jedem sozialen Kontext. Demokratische Entscheidungen werden überall getroffen. In Beziehungen, in der Familie und im Beruf. Ich glaube, wenn man wirklich ausschöpft, was man in diesem Seminar lernen durfte, ergibt sich für jede*n einzelne*n ein ungeheurer Mehrwert an Erfahrung und Fähigkeit zur Abstraktion und Beihilfe zu Entscheidungsfindungen.

Ich danke allen Teilnehmer*innen und der Moderation, mit denen allen ich viel Freude hatte und schöne Erinnerungen an ein sehr besonderes Erlebnis teile. Ich würde diese Erfahrung jeder Person weiterempfehlen, egal aus welchem Kontext sie kommt.