Stadtverband Detmold – Der Kommentar Zurück in die Zukunft

Endlich wieder Normalität! Wer könnte diesen Wunsch nicht verstehen, aber wessen Normalität? Für die einen ist es normal, regelmäßig im Straßencafe zu sitzen. Für andere ist es eher nicht oder nur ganz selten bezahlbar und damit alles andere als normal. (Angebliche) Normalität in neoliberalen Gesellschaften ist etwas sozial ungleich Geltendes und wirkt damit gleichzeitig Realität kaschierend. Klingt komisch, ist aber so. Außerdem, seien wir ehrlich, ist unsere vermeintliche Normalität von gestern Grundlage vieler Probleme von heute.

Dennoch ist das Bedürfnis vieler Zeitgenossen nach alten sozialgesellschaftlichen Abläufen natürlich verständlich. Zumal die kürzlichen und derzeitigen Einschränkungen den für viele neuen Alltag mit Bildungsaufgaben für die Kinder bei gleichzeitigem Home-Office in womöglich beengten Wohnverhältnissen und Streit über neu zu definierende Rollenverteilungen rasch zum Graus werden lässt.

Zu denken gibt uns allerdings, wer sich neben den alltagsbetroffenen Menschen sonst noch und  besonders nachhaltig tummelt und die rasche Rückkehr zu alter (Markt)Normalität fordert. Gemeint sind die, für die der wirkliche Wert des Lebens der Mehrwert ist, die Renditejäger der Groß- und Finanzindustrie. Sie machen aktuell neben vielen Politikern der marktradikalen Mitte wie Wolfgang Schäuble deutlich, dass der entfesselte Kapitalismus nicht in der Lage ist, einen längeren Lockdown zu überstehen. Schäuble gar mit fast schon (rechts)philosophischen Worten.

Zur Rechtfertigung der Rückkehrforderungen wird längst gern auch auf Verluste an ökonomischer Wohlfahrt, sozialer Stabilität und auf psychischen Stress der unmittelbar betroffenen Menschen verwiesen. Stress durch zunehmende Arbeitslosigkeit etwa. Dies geschieht unter anderem durch die Menschenfreunde der Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die kürzlich noch gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung die Schließung von Krankenhäusern in Deutschland notwendig fanden. Und in diesem Zusammenhang auf psychischen Stress für die dortigen Mitarbeiter ähnlich wie große Teile der etablierten Politik gesch … hatten.

Diese Heuchelei ändert natürlich nichts an der Berechtigung von Hinweisen auf die durch den Lockdown entstandenen riesigen Probleme für die Menschen. Wenn diese Hinweise allerdings in einen Wettstreit münden, welche Folgen – pro oder contra Lockdown - denn nun die schlimmeren sind, wird es rasch skurril. Im Extremfall ergibt das dann auch schon mal Äußerungen wie die vom Grünen Bürgermeister  Boris Palmer, der übrigens keineswegs der Einzige ist, der einer dem Grunde nach euthanasie-orientierten Phantasie ihren Lauf ließ.

Gleichwohl ist einiges an aktuellem Ärger vieler Menschen nachvollziehbar. Zu unverständlich und unsinnig waren zahlreiche Maßnahmen wie Parkbankverbote sogar für einzelne Menschen oder im größeren Rahmen etwa die innereuropäischen Grenzschließungen. All das in einem kontrollarmen infektionsbezogenen Ermächtigungsrahmen, der ebenfalls Sorge bereitet. Aber: Ermächtigungen, gar in Rechtsform, hatten wir doch unmittelbar zuvor schon. So manche von denen, die jetzt zunehmend auf die Straße gehen gegen Lockdown-Bestimmungen, waren bei den Polizei-Ermächtigungen nicht zu sehen.

Kann im augenblicklich sich leicht hochschaukelnden Chaos die Wissenschaft helfen? Na ja, bei all den Wissenschaftlichkeit beanspruchenden Exkursen kann einem schon mal schwindelig werden. Deutlich ist eher eines: Der aktuelle Wissenschaftsdiskurs ist noch in der Entwicklung oder in der Streitphase (was durchaus normal ist) und daher nichts Exaktes. Insofern sind die Gesetzmäßigkeiten von Covid-19 noch keineswegs gesichert. Ihre wissenschaftliche Belastbarkeit hält sich in Grenzen. Die ganze Aussagearmut offiziell gehandelter Statistik samt Widersprüchlichkeiten mit Reproduktionsraten, geglättetem R-Wert und Co zu verstehen, ist insofern auch eine Wissenschaft für sich. Und lässt umso mehr Raum für Emotionen wie Ängsten. Da ist es wirklich saublöd, dass das Mittel erster Wahl gegen Ängste die Information ist.

Hier sind, sicher gut gemeinte, Auslassungen, wie die der Linksparteivorsitzenden Katja Kipping  auch nicht wirklich hilfreich. Sie formuliert in einem Beitrag ein virusfreies Deutschland durch eine Senkung der Reproduktionsrate auf 0,5. Wie das genau funktionieren  und wie ein solcher womöglich erreichter Status erhalten bleiben soll, bleibt denn doch recht offen. Sollen dann wieder Grenzen geschlossen werden? Oder wie? Covid-19, liebe Katja, ist pandemisch und insofern nicht regional lösbar. Es sei denn, um den Preis der totalen Isolation. Und das womöglich auf Dauer.

Aber wir machen das alle zu ersten Mal. Nichts ist einfach derzeit. Bleiben wir wachsam, kritisch, fürsorglich und wo es sein muss, auch rebellisch. Behalten wir auch in diesen Zeiten das Ziel einer Zukunft vor Augen, die uns nach der nun noch vor uns stehenden Krise zurückführt in eine dann aber gerechtere Zeit für alle.

 

Christiane Escher

Lothar Kowelek

16.5.2020